Mit dem Klapprad in die Kälte

„Einen Macha-Tee mit Sojamilch“ tönt es hinter mir von der Theke. Ich war eigentlich nach Hannover gefahren um ganz etwas anderes zu machen aber dann funktionierte meine ausgearbeitete Mobilitätskette nicht und nun sitze ich im Cafe einer Buchhandlung und warte auf meinen Sohn. Um die Zeit zu überbrücken habe ich mir ein Buch gekauft. Natürlich eines mit Fahrradbezug. Tim Moore; Mit dem Klapprad in die Kälte. Ein Taschenbuch mit 384 Seiten, eigentlich ein wenig zu dick für ein Cafe-Besuch.

Ich beginne zu lesen und schnell zieht mich der Schreibstil von Tim Moore durch die Seiten. Flüssig geschrieben, eine launige, meist amüsante Wortwahl scheint genau das richtige für diesen Nachmittag. Tim Moore erläutert wie es dazu kam, das er sich die Tour vorgenommen hat: den gesamten Iron Curtain Trail abzufahren. Es scheint eine verrückte Idee die Grenze des ehemaligen eisernen Vorhangs von der Barentsee im Norden bis zum Schwarzen Meer abzufahren. 9000 km, durch 20 Länder und mit Temperaturunterschieden um 58° Celsius müssten eigentlich für jeden zwar gut trainierten aber halbwegs rational denkenden Menschen die Entscheidung klar vorgeben: NEIN. Nicht so Tim Moore, der britische Abenteurer liebt es ungewöhnliche Reisen zu unternehmen und darüber zu schreiben. So hat er bereits den Jakobsweg mit einem störrischen Vierbeiner erwandert (Zwei Esel auf dem Jakobsweg), eine Beinahe-Tour-de-France durchgestanden (Alpenpässe und Anchovis) und ist auf einem 99 Jahre alten Rennrad mit Holzfelgen den Giro d’Italia von 1914 nachgefahren (Gironimo). Naheliegend, das er diese Tour natürlich nicht mit einem top ausgestatteten Gravel-Bike absolviert sondern zur eigenen Selbstkasteiung ein anderes Gefährt auswählt. Das Mifa 900 war D A S Klapprad der DDR. Vorgestellt 1967 und kontinuierlich bis zur Produktionseinstellung 1990 weiterentwickelt durch so bahnbrechende Neuerungen wie Veränderung der Farbe der Zierstreifen auf dem Schutzblech und Gepäckträger vorn und hinten dem Lauf der Zeit angepasst. Bereits 1977 wurde die vordere Stempelbremse durch eine Felgenbremse ersetzt. Tim Moor ist jedoch nicht verweichlicht und entscheidet sich für eine Ausführung mit Stempelbremse; viel Fläche und wenig Wirkung.

Hinter mir tönt die freundliche Stimme „Einen Karamell-Macchiato mit laktosefreier Milch“. Nach den ersten 20 Seiten, auf denen Moore zugeben, muss gar kein Klapprad erstanden zu haben sondern eines dieser kuriosen Produkte, die zwar aussehen wie ein Klapprad aber bei denen man zur besseren Stabilität einfach das Scharnier weggelassen hat, kommen bei mir kurz Zweifel auf, ob dieser Commedie-Schreibstil über 300 Seiten zu ertragen ist. Allerdings gelingt es Ihm dann durch Rückblicke in die Geschichte der Regionen durch die er radelt und ernstzunehmende Analysen des Menschentyps meine Aufmerksamkeit wieder zu fesseln. Zwar erreichen die historischen Exkursionen in den Winterkrieg zwischen Finnland und Russland keine Geschichtsbuchqualitäten, aber sie holen die Lektionen aus der eigenen Schulzeit wieder hervor und machen neugierig auf mehr. Die Beschreibungen der abrupten Wechsel von Menschenfreundlichkeit, Landschaft und Umwelt sobald sein Mifa 900 die Grenze überquert, zeigen wie starr immer noch die Grenzen in Europa das Handeln und die Mentalität prägen.

Eines ist den Menschen in den unterschiedlichen Ländern dann doch gemeinsam: Sie halten Moore für verrückt, wenn sie sein getuntes Mifa 900 sehen. Das Buch ist lesenswert und kurzweilig. Macht Lust auf die Geschichte der Länder und die Entwicklung nach dem Fall des eisernen Vorhangs und an manchen Stellen ertappe ich mich dabei, wenn auch immer nur ganz kurz, ob ich nicht auch den Iron Curtain Trail zumindest teilweise und natürlich nicht im Winter – aber dann lege ich mich wieder zurück in die Sessellehne in der ich mittlerweile wieder angekommen bin, nehme meinen Tee und lasse die Bilder, die Tim Moore erzeugt in meinem Kopf entstehen.

Mittlerweile wird das Wetter etwas wärmer, die Baltischen Staaten liegen hinter ihm und Moore radelt entlang der polnischen Küste. Land für Land arbeitet er sich vor und kommt dabei immer wieder in ähnliche Situationen. Leider kann inzwischen die Sprache Moore’s nicht die Unterschiedlichkeit der Landschaften und die Vielfalt der Menschen wiedergeben. Trotzdem noch interessant zu lesen, welche Strapazen er auf sich nimmt um das gesteckte Ziel zu erreichen.

 

Tim Moore; Mit dem Klapprad in die Kälte, Abenteuer auf dem Iron Curtain Trail; 384 Seiten; Verlag Covadonga

2 Kommentare zu „Mit dem Klapprad in die Kälte

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  1. Ich lese eine Zwiegespaltenheit in dieser Rezension, die ich auch empfinde – trotz mehrerer Anläufe voller guter Vorsätze wandert das Buch aber vermutlich angelesen ins Regal, denn der Tonfall passt mir auf Dauer nicht: Anfangs noch ganz witzig/erfrischend, wird er von Seite zu Seite immer vorhersehbarer … vielleicht müsste man mal das englische Original lesen, ich könnte mir vorstellen, dass hier beim Übersetzen der berühmte feine englische Humor etwas zu grob geraten ist?!

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    1. Ja, ich kann Dich nur bestätigen. Nach ein paar Wochen Liegezeit neben dem Bett, hab ich erneut versucht ein paar Kapitel zu lesen und nun ist das Buch wieder auf die Seite gewandert. Ein paar weniger Seiten wären sicher gut gewesen.

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